Gegen rechte Ideologien und für gleiche Menschenwürde

Graffiti Bild mit Slogan "For All"

Über 180 Verbände fordern Schutz vor Diskriminierung für behinderte Menschen in der Migrationspolitik

Derzeit erleben wir die größten und flächendeckendsten Massendemonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik. Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland mobilisieren sich im Zuge alarmierender politischer Entwicklungen, um lautstark Demokratie, Menschenwürde und Vielfalt vor rechten Ideologien, Ausgrenzung und einer sogenannten „Re-Migration“ zu verteidigen.

Doch rechte und menschenfeindliche Ansichten bekommen derzeit nicht nur Rückhalt in der Öffentlichkeit und der Opposition; sie schlagen sich bereits in unserer demokratisch verabschiedeten Gesetzgebung nieder. So billigte der Bundesrat am 2. Februar 2024 mehrere Gesetzesinitiativen unter dem zynischen Namen „Für eine von Humanität und Rechtsstaatlichkeit geprägte Asyl- und Migrationspolitik“.

Dabei handelt es sich in Wahrheit um die tiefgreifendsten Gesetzesverschärfungen in der Asyl- und Migrationspolitik seit 10 Jahren, die schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zur Folge haben. Ein großer Personenkreis, der besonders stark betroffen ist und bisher völlig außer Acht gelassen wurde: Geflüchtete und Migrant*innen mit Behinderungen.

Unsere Forderungen

  • Behinderte Menschen und ihre Angehörigen haben einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung und dürfen nicht nur auf eine freiwillige, auf staatlichem Wohlwollen beruhende Härtefallregelung angewiesen sein. Die Ausnahmeregelung, dass behinderte Menschen die Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht zu vertreten haben, ist wieder einzuführen.
  • Asylsuchende und geduldete Kinder und Jugendliche (mit Behinderungen) sind – so wie es im Koalitionsvertrag beschlossen wurde – im Regelsystem Sozialgesetzbuch (SGB) zu versorgen.
  • Für Beziehende von Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist eine bundesweite ausdrückliche Ausnahmeklausel oder ein gesetzlicher Anspruch auf behinderungsspezifische Sozial-, Gesundheits- und Teilhabeleistungen auf SGB-Niveau zu verabschieden, bis ein Regelzugang zum SGB für alle Menschen von Anfang an ermöglicht wird.
  • Die symbolpolitische Einführung einer bundesweiten Bezahlkarte zur Abschaffung von Überweisungs- und Bargeldmöglichkeiten für Asylsuchende und Geduldete ist zu verhindern.
  • Für Unterstützungsstrukturen im Bereich Flucht und Migration sind zusätzliche Fördermittel auf Bund- und Länderebene bereitzustellen, damit sie ihre elementare Arbeit fortführen können.

Verwehrung politisch-demokratischer Partizipation

Behinderte Menschen und deren pflegende/assistierende Angehörige werden künftig beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausgeschlossen, da sie ihren Lebensunterhalt aufgrund des erschwerten Zugangs zum Arbeitsmarkt oder beeinträchtigungsbedingt nicht eigenständig sichern können.

Das „Gesetz zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts“, das politisch und historisch als progressiv präsentiert wird, bewirkt in Wahrheit eine mittelbare Diskriminierung und schließt behinderte Menschen als Demokratie- und Rechtssubjekte kategorisch aus.

Trotz großer Einwände von Verbänden und einzelnen Abgeordneten signalisiert die Bundesregierung: Um als Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden und durch Wahlen und politische Ämter unsere Demokratie mitzugestalten, sind die Leistungsfähigkeit und der wirtschaftliche Nutzen entscheidend. Wie gefährlich und demokratiefeindlich diese kapitalistische Verwertungslogik wirklich ist, sollte insbesondere vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistischen „Euthanasie“- Morde und Zwangssterilisationen an hunderttausenden Menschen mit Behinderungen bedacht werden. 

Ausschluss aus der Gesundheitsversorgung

Einen besonders dramatischen Ausschluss erleben schutzsuchende Menschen im und jenseits des Asylverfahrens im Zuge des „Rückführungsverbesserungsgesetzes“. Neben der Legalisierung von inhumanen Abschiebepraktiken und Inhaftierungen tritt eine Verlängerung der Asylbewerberleistungen (AsylbLG) in Kraft. Dies wurde gemeinsam mit einer bundesweiten Einführung von Bezahlkarten beim Bund-Länder-Treffen am 6. November 2023 schlagartig beschlossen.

Dabei handelt es sich um die gravierendsten sozialrechtlichen Verschärfungen für asylsuchende und geduldete Menschen seit einem Jahrzehnt – und das in Rekordzeit ohne jegliche Beteiligung von sachverständigen Dritten. Asylsuchende und geduldete Menschen werden nun nicht mehr für 18 Monate, sondern 36 Monate aus dem regulären Sozialleistungs- und Gesundheitssystem (Sozialgesetzbuch – SGB) ausgeschlossen. Mittellose Menschen erhalten in dieser Zeit Sach- und Geldleistungen unterhalb des menschenwürdigen Existenzminimums (Regelsatz Bürgergeld), die ihren tatsächlichen notwendigen (persönlichen) Bedarf nicht decken. Zudem ist die Gesundheitsversorgung lediglich auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände beschränkt (§ 4 AsylbLG).

Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit

Es gibt keinen Rechtsanspruch auf behinderungsbedingte (Mehr-)Bedarfe im Sondersystem AsylbLG. Notwendige Gesundheits- und Teilhabeleistungen sind lediglich als Kann-Leistung (Ermessen) über einen unklaren Auffangparagrafen durch die Auslegung mit Verfassungs-, Europa-, und Völkerrecht möglich (§ 6 AsylbLG). In der Praxis und Wissenschaft zeigt sich jedoch überwältigend, dass dieser bestehende rechtliche Spielraum von Sozialämtern nicht oder nur äußerst restriktiv und verzögert genutzt wird. Insgesamt besteht bei den beteiligten Akteuren eine erhebliche (Rechts-)Unkenntnis und Unsicherheit über diese theoretische Möglichkeit.

Zudem ist in einigen Bundesländern und Kommunen der Zugang zu Arztpraxen nur über Behandlungsscheine möglich, über deren Ausgabe nicht medizinisch ausgebildete Sachbearbeiter*innen entscheiden. Das komplexe Zusammenwirken dieser rechtlichen Barrieren mit weiteren praktischen Zugangsbarrieren führt zu einer eklatanten Unterversorgung von behinderten Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Älteren sowie deren Angehörige. Dies betrifft unter anderem medizinische Behandlungen, Hilfs- und Heilmittel wie etwa Rollstühle und Psychotherapie, sowie Pflegeleistungen und Teilhabeleistungen.
Besonders dramatisch ist die auffallend hohe Anzahl an schwerbehinderten und pflegebedürftigen Kindern und Jugendlichen, die schwerwiegende und irreversible gesundheitliche Folgeschäden erleiden.

Die Unterversorgung nimmt sogar solche Ausmaße an, dass die körperliche Unversehrtheit regelmäßig gefährdet ist und lebensbedrohliche Situationen herbeigeführt und begünstigt werden. Auch für die große Zahl von Leistungsbeziehenden, die im Verlauf einen Schutzstatus erhalten, werden dadurch sämtliche Integrations- und Arbeitsmöglichkeiten um Jahre hinausgezögert oder verwehrt.

All dies tritt zeitgleich mit drastischen Kürzungen von staatlichen Fördermitteln für Unterstützungsstrukturen im Bereich Flucht und Migration auf Bundes- und Länderebene in Kraft. Ihre fundamental wichtige Arbeit, diese Missstände im Sinne einer „Schadensbegrenzung“ abzufedern wird ebenso existenziell gefährdet. Bisherige Strategien von beteiligten Akteuren wie das „Aussitzen“ des Leistungsausschlusses von 18 Monaten und das Organisieren von Spenden und Ehrenamt für wenige Auserwählte wird kaum mehr möglich sein. Stattdessen findet eine immer weiterführende Entmenschlichung und Entrechtung statt, indem sich behinderte Menschen notgedrungen in eine Opfer- und Mitleidsrolle fügen müssen, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen.

Unwissenschaftliche und rechtswidrige Fehlannahmen

Es ist längst wissenschaftlich widerlegt, dass eine Herabsenkung von Sozialleistungen ein wirksames Instrument gegen Fluchtzuwanderung ist. Schutzsuchende Menschen werden weiterhin vor Verfolgung und humanitären Notlagen flüchten und nicht, weil sie jahrelang in gesundheitsgefährdenden und gewaltbelasteten Massenunterkünften leben und monatliche Sozialleistungen von 204,00 EUR beziehen möchten.

Die Einführung einer Bezahlkarte zur Abschaffung und Reduzierung von Überweisungs- und Bargeldmöglichkeiten, um angebliche Massenüberweisungen ins Ausland zu verhindern, ist zynisch und ohne wissenschaftliche Evidenz. Es handelt sich um reine Symbolpolitik, die in den Kanon des Rechtspopulismus einstimmt. Die Bezahlkarte als Überwachungs- und Kontrollinstrument raubt Schutzsuchenden ihre letzte Selbstbestimmung und erhöht abermals die Gefahr einer gesundheitlichen Unterversorgung von behinderten Menschen.

Die Gesetzesänderungen verstoßen gegen Verfassungs-, Europa-, und Völkerrecht. Unser höchstes deutsches Gericht hat in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass es einen Leistungsanspruch auf die Gewährleistung eines gesundheitlichen und sozio-kulturellen Existenzminimums unabhängig von der Aufenthaltsdauer und -perspektive gibt: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (BVerfG, Urt. v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, Rn. 95). Dies garantiert das Menschenwürde- und Sozialstaatsprinzip. Folglich wurde der damalige Ausschluss aus dem SGB von 48 Monaten (2007) auf 15 Monate (2015) herabgesenkt, (der 2019 wiederum auf 18 Monate verlängert wurde).

Laut Bundesverfassungsgericht sei eine Herabsenkung des Leistungsniveaus nur gerechtfertigt, wenn ein tatsächlicher Minderbedarf in einem transparenten Verfahren nachgewiesen wird und es sich um einen in aller Regel kurzfristigen Aufenthalt handelt. Beides wurde bis heute nie bewiesen. Die bisherige Rechtfertigung des Gesetzgebers, dass es sich ohnehin um einen in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden und unsicheren Aufenthalt handelt, ist bereits bei einer Wartefrist von 18 Monaten (insbesondere bei kleinen Kindern) verfassungsrechtlich fragwürdig. Die jetzige Verdoppelung des Leistungsausschlusses von 36 Monaten steht in direktem Widerspruch und ist eine willkürliche Entscheidung ohne jede empirische Grundlage.

Ebenso sind die höherrangigen und unmittelbar anwendbaren konkreten Vorgaben der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) zu beachten, welche die „erforderliche medizinische Hilfe“ für sogenannte besonders schutzbedürftige Asylsuchende, darunter behinderte Menschen, garantieren. Nicht zuletzt ist auch das aufenthaltsunabhängige Menschenrecht auf Gesundheit und Teilhabe zu berücksichtigen, so wie es unter anderem von der UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert und im letzten Staatenprüfverfahren vom UN-BRK Fachausschuss 2023 ausdrücklich angemahnt wurde.

Anders als vor 10 Jahren sind mehr Menschen denn je von dem Leistungssauschluss betroffen. Bis dies vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden kann, vergehen Jahre. Jahre, in denen notwendige medizinische und rehabilitative Leistungen unnötig herausgezögert werden und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit verwehrt wird (Art. 2 Abs. 1 GG). Es ist höchst gefährlich, wenn Parteien das Menschenwürde- und Sozialstaatsprinzip – die höchsten Güter der deutschen Verfassung – in Frage stellen und eine Änderung des menschenwürdigen Existenzminimums in Abhängigkeit von der Staatsangehörigkeit fordern.

Es gibt nur eine Menschenwürde

Der bereits von 210 Organisationen unterzeichnete Appell von 2023 bleibt bestehen: Nur die komplette Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die Verhinderung von Bezahlkarten können das Menschenrecht auf Gesundheit und Teilhabe gewährleisten. Die jüngste Gesetzgebung und die weitere Ausgestaltung erfordern einen rechtsstaatlichen, demokratischen und partizipativen Prozess. In der Praxis ist eine enge Vernetzung und Kooperation von Beratungs- und Hilfsorganisationen im Bereich Flucht, Migration und Behinderung mit lokalen Rechtsanwält*innen wichtiger denn je zuvor, um den Betroffenen Zugang zu Rechtswegen zu ermöglichen und Rechtsansprüche geltend zu machen.

Wir, über 180 Organisationen und über 70 Einzelpersonen – Selbstvertretungsorganisationen von behinderten Menschen (DPOs) und Migrant*innen (MSOs), Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Leistungserbringer, Berufsverbände, medizinische, juristische und wissenschaftliche Akteure sowie weitere soziale und solidarische Vereinigungen – treten für Menschlichkeit, Sicherheit, Gesundheit und Selbstbestimmung ein. Wir fordern die Achtung und den Schutz der unveräußerlichen und unantastbaren Menschenwürde – die oberste Verpflichtung aller staatlichen Gewalt – unabhängig vom Herkunftsland (Art. 1 GG).

Das verfassungsrechtlich garantierte Gleichheitsgebot „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG) ist kein „Deutschenrecht“, sondern ein Menschenrecht, das für alle uneingeschränkt gilt.

Die menschenrechtlichen Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland bereits vor 15 Jahren ratifiziert hat, müssen endlich Eingang in die Asyl- und Migrationspolitik finden! „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ (Art. 1 Abs. 2 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland)