Hanau - Eine Nacht und ihre Folgen

Demonstration mit Schildern, die die Opfer des Anschlags zeigen
© Leonhard Lenz, CC0, via Wikimedia Commons

Der Mörder kam aus der Nachbarschaft: Er erschoss neun junge Menschen aus rassistischen Motiven. Überlebende und Angehörige berichten, wie sie die Tatnacht und die Monate danach erlebt haben und wie sie sich gegen die Logik des Täters wehren, der sie zu Fremden in ihrer eigenen Heimat machen wollte. Seit jener Februarnacht kämpfen sie um das Andenken der Opfer und um die Aufklärung des Geschehenen. Und sie stellen viele drängende Fragen zur Tatnacht und zum Täter, die ihnen bislang niemand beantworten wollte. Fragen, mit denen wir uns in unserer Veranstaltung "Hanau - Eine Nacht und ihre Folgen" im Rahmen der interkulturellen Woche beschäftigt haben. Durchgeführt wurde die Veranstaltung von unserer Integrationsagentur Lünen/Bergkamen, dem Projekt "Muslime im Dialog" und unserem Bildungswerk.

Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kenan Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov  - sie alle starben am 19.02.2020 bei dem rassistischen Anschlag in Hanau. Regisseur Marcin Wierzchowski fuhr gleich am Tag nach der Tat nach Hanau und begleitete Überlebende und Hinterbliebene über einen langen Zeitraum  - der entstandene Dokumentarfilm „Hanau - Eine Nacht und ihre Folgen“ schildert die Geschehnisse, die eklatanten Versäumnisse von Polizei und Behörden sowie den strukturellen Rassismus aus ihrer Perspektive. Um diese zentralen Punkte ging es in unserer Online-Veranstaltung am 29. September 2021, die mit der Vorführung des Dokumentarfilms begann. Im Anschluss an den Dokumentarfilm haben wir mit Serpil Temiz Unvar, der Mutter des getöteten Ferhat Unvar und Gründerin der Bildungsinitiative Ferhat Unvar, Marcin Wierzchowski, dem Regisseur des Dokumentarfilms, Sarah Praunsmändel, Juristin und Polizeiforscherin aus dem Projekt „ZuRecht – Die Polizei in der offenen Gesellschaft, Dilan Yazicioğlu, Mitglied des Rates der Stadt Köln Bd. 90/Die Grünen und Mitglied im Polizeibeirat Köln, und Hans-Peter Killguss, Leiter der Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus (ibs) im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, gesprochen.

Im Gespräch wurde der geplant durchgeführte, rassistisch und rechtsextremistisch motivierte Anschlag in Hanau in den Kontext der rassistischen Pogrome wie Rostock und Hoyerswerda, Brandanschläge wie Solingen und Mölln, Anschläge wie Halle und München, der gezielten Tötung aus rassistischen Motiven wie im Fall von Antonio Amadeu oder Oury Jalloh und der NSU-Morde gestellt.

Was sind die Schlüsse und Lehren, die nach dieser Nacht gezogen werden müssen? Was hat sich in Hanau nach den Morden verändert? Was muss sich angesichts des Polizeiversagens in Hanau strukturell bei der Polizei verändern? Was muss dem allgemeinen strukturellen Rassismus entgegengesetzt werden? Viele Fragen, auf die gemeinsam nach Antworten gesucht wurde.

Nachfolgend einige zentrale Feststellungen und Forderungen:

„Kinder kommen nicht als Rassisten auf die Welt.
Man erlernt es und kann es auch verlernen.“
Serpil Temiz Unvar

Rassismus ist historisch gewachsen, alltäglich und strukturell. Deshalb muss auch die aktive Bekämpfung von Rassismus auf allen gesellschaftlichen, strukturellen und politischen Ebenen erfolgen. Es ist notwendig, weiter an Strategien gegen den alltäglichen und institutionellen Rassismus zu arbeiten und gleichzeitig rassistisch motivierte Gewalt entschlossen zu bekämpfen. Hierbei ist es wichtig, einen Schwerpunkt auf die Betroffenenperspektive zu setzen, um die Dominanzgesellschaft bezüglich der Wirkmechnismen und Folgen von Rassismus zu sensibilisieren.

Das Bildungssystem darf Rassismus nicht reproduzieren. Die Schule hat eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung von Rassismus, deshalb müssen die Lehrkräfte explizit für die Bekämpfung von Rassismus ausgebildet werden.

Die Solidarität der Stadtgesellschaft darf sich nicht auf Lippenbekenntnisse beschränken. Zivilgesellschaftliche Bündnisse sind für die Bekämpfung von Rassismus wichtig, weil sie den für politische Veränderungen notwendigen Druck aufbauen können. Gemeinsame Allianzen sind auch in der Verantwortung diese einzufordern.

Das Polizeiverhalten in Hanau während des Anschlags und danach waren ein „rechtsstaatlicher Supergau“. Auch der politische Umgang mit dem Polizeiverhalten nach dem Anschlag war nicht angemessen. Der Umgang mit den Opferangehörigen war respektlos und rassistisch. In Hanau, so wurde berichtet, würden jugendliche Migrant:innen auch nach dem Anschlag noch verstärkt in einer als provokativ empfundenen Art kontrolliert, auch vor den Räumen der Bildungsinitiative Ferhat Unvar. Eine Entschuldigung für den unsensiblen und unangemessenen Umgang mit den Angehörigen habe es nicht gegeben. Eine umfassende Beschäftigung mit dem Themenkomplex Rassimus sowie eine konsequente Aufarbeitung von strukturellen Missständen innerhalb der Polizeibehörden ist dringend geboten. Im Gespräch wurde ein externes Beschwerdemanagement als  eine Möglichkeit zur Kontrolle und für notwendige Disziplinarverfahren genannt. Hierzu sei es jedoch zunächst notwendig, dass innerhalb der Polizeibehörden eine Fehlerkultur zugelassen und eine Beteiligung an der Aufarbeitung von Missständen aktiv angegangen werde.

Der Verfassungsschutz muss rechtsextreme Taten und Täter:innen als solche wahrnehmen und benennen. Hinweise aus der Bevölkerung müssen ernstgenommen und nicht ignoriert werden, wie beispielsweise im Mordfall an Walter Lübcke geschehen. Radikalisierungsprozesse - auch in Social Media - müssen besser erforscht werden, auf den Erkenntnissen basierend müssen Präventionsmaßnahmen entwickelt werden. Selbstverständlich muss Rassismus und Hate-Speech in Social Media angemessen sanktioniert werden.

Rechtsextreme Straftaten müssen lückenlos aufgeklärt werden. Es ist in einem Rechtsstaat nicht akzeptabel, dass die NSU-Prozessakten unter Verschluss stehen. Das Maßnahmenpaket mit wichtigen Forderungen für eine offene und sichere Gesellschaft, welches aus dem NSU-Untersuchungsausschuss empfohlen wurde, ist noch immer aktuell und wurde bisher nicht ausreichend umgesetzt.

Es bleibt abzuwarten, was der Untersuchungsausschuss zutagebringt, der vom Hessischen Landtag eingerichtet wurde, um die Versäumnisse der Behörden im Vorfeld der rassistischen Morde am 19. Februar 2020 in Hanau sowie das "Nachtatverhalten" der Polizei zu untersuchen. Als Teil der Zivilgesellschaft werden wir die Entwicklungen weiter kritisch verfolgen.