Endlich wieder vereint
Der Fall Ahmad Saleh
Als Ahmad Saleh uns vor vier Jahren zum ersten mal aufsuchte, war er verzweifelt. An seinem Blick, seiner Körperhaltung war zu erkennen, dass ihn große Sorgen plagten. Seine Fragen und Nöte waren vielschichtig, doch es war vor allem eins, das ihn beschäftigte: Seine Familie.
Wir baten ihn, uns erstmal seine Fluchtgeschichte zu erzählen:
2015: Flucht aus Syrien
Seit 2011 wüten in Syrien andauernde bewaffnete Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen. Ahmad Saleh und seine Familie lebten mittendrin. Sie hielten sich raus aus dem Konflikt, doch als sein ältester Sohn volljährig war, wurde er zum Militär einberufen.
Weil er in diesem Krieg nicht dienen wollte, tauchte sein Sohn unter. Daraufhin nahm das Militär Ahmad Saleh in Haft, forderte ihn auf das Versteck seines Sohnes zu verraten, folterte ihn.
Als Herr Saleh das Gefängnis verließ, wusste er: Ihm bleibt nichts anderes übrig als Syrien zu verlassen. Seine Familie mitnehmen? Zu gefährlich! Er beschloss, allein mit seinem ältesten Sohn das Land zu verlassen. Sobald sie in Sicherheit sind, holt er seine Familie nach, so der Plan.
Sie nahmen eine gefährliche Route in Kauf, über die Türkei, den Balkan, der einzig mögliche Weg. Als sich Deutschland bereit erklärte, sie aufzunehmen, endet ihre wochenlange Odyssee zunächst München, dann in Stuttgart und schließlich in Lünen.
Schwerer Start in Deutschland
Ahmad Saleh und sein Sohn waren endlich in Sicherheit. Doch seine Frau war mit den drei anderen Kindern weiterhin im kriegsgeplagten Syrien. Er wollte sie so schnell wie möglich nachholen, aber wie?
Er wand sich an unsere Flüchtlingsberatung. Dort erfuhr er, dass der Familiennachzug für die kommenden zwei Jahre ausgesetzt wurde, zumindest für Menschen wie Herr Saleh, der zu diesem Zeitpunkt lediglich subsidiären Schutz erhielt.
Es wurde ihm geraten, gegen den Entscheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Widerspruch einzulegen. Als Geflüchteter mit guter Bleibeperspektive wurde sein Fall an uns weitergeleitet.
Wieder eine andere Behörde, an die er sich wenden und alles nochmal von vorne erklären musste? Zum Glück nicht, denn unsere Migrationsberatung ist nur eine Tür weiter und wir arbeiten im ständigen Austausch miteinander.
Sprachliche und Berufliche Integration
Uns war klar, dass seine Familie das Wichtigste war, aber solange sein Flüchtlingsschutz eingeschränkt ist, waren uns erst einmal die Hände gebunden. Wir konzentrierten uns daher auf andere Herausforderungen. Wir vermittelten ihn in einen Deutschkurs und besprachen seine beruflichen Möglichkeiten.
In Syrien war Ahmad Saleh als Krankenpfleger tätig. Ein Berufszweig, in dem Deutschland händeringend nach Fachkräften sucht. Keine schlechten Perspektiven also. Doch in Syrien gibt es keine Ausbildung für diesen Beruf, die er hier hätte anerkennen lassen können. Andere Dokumente, schriftliche Nachweise, leider Fehlanzeige.
Es gelang uns dennoch, ein Praktikum in der Altenpflege zu vermitteln. Dort machte er sich so gut, sodass der Arbeitgeber es mit ihm weiter versuchte, als Altenpflegehelfer.
Doch Herr Saleh war noch nicht so weit. Sein Deutsch wurde zwar besser, aber es reichte noch nicht, um im Berufsalltag zu bestehen. Nach sechs Monaten gab er auf. Sein Arbeitgeber stellte ihm in Aussicht, wieder bei ihm zu arbeiten, sobald seine Sprachkenntnisse auf ausreichendem Niveau seien.
Der Krieg holt ihn immer wieder ein
Während sein Sohn in einer internationalen Förderklasse Deutsch lernte, und über unser Kompetenzcenter erste berufliche Erfahrungen machte, fiel Herrn Saleh das Lernen weiterhin schwer. Er konnte sich nicht konzentrieren, seine Gedanken drifteten immer wieder ab. Was macht meine Frau gerade? Geht es den Kindern gut? Fragen wie diese blockierten ihn immerfort.
Soweit es ihm möglich war, nahm er Kontakt mit seiner Familie auf. Nicht immer gab es gute Nachrichten. Einmal erhielt er ein Foto von seinem Haus in Syrien. Ein Granateneinschlag hatte es komplett zerstört. Was noch schlimmer war: Sein jüngster Sohn wurde bei dem Angriff schwer verletzt.
Wie soll er bloß mit diesen Bildern in Kopf die Sprachprüfung bestehen? Es reichte für das Niveau A2, ein Fortschritt, aber zu wenig um beruflich Fuß zu fassen.
Die Zeit wird knapp
Die Lage in seinem Heimatdorf spitzt sich immer weiter zu. Wie lange hält es die Familie dort noch aus? Immer wieder kam er zu uns in die Beratung, erzählt uns von der desolaten Situation vor Ort.
Ein Hoffnungsschimmer: Seit dem 1. August 2018 ist der Familiennachzug von engsten Familienangehörigen zu subsidiär Schutzberechtigten wieder möglich. Allerdings für ein begrenztes Kontingent von 1.000 Personen pro Monat.
Herr Saleh macht sich Sorgen, dass es bald zu spät sein könnte. Zudem wird seine älteste Tochter bald 18, darf sie dann überhaupt noch mitkommen?
Wir setzen alle uns möglichen Hebel in Bewegung, nehmen Kontakt mit der Internationalen Organisation für Migration auf, eine internationale Organisation im UN-System. Auch mit der Stadt Lünen stehen wir im regelmäßigen Austausch. Der Prozess zieht sich über weitere Monate, eine unerträgliche Situation für alle Beteiligten.
Der Durchbruch - neue Herausforderungen
Im Juni 2019 ist es endlich soweit: Nach fast fünf Jahren ist Herr Saleh wieder mit seiner Familie vereint. Alle sind überglücklich! Auch wir sind erleichtert.
Auch die Klage gegen seinen Schutzstatus hat Erfolg: Der Vater hat keinen subsidiären Schutz mehr, sondern einen Flüchtlingsstatus.
Doch unsere Arbeit ist damit noch nicht erledigt. Die Familie braucht dringend eine größere Wohnung. Die Sommerferien nahen, und die Kinder haben noch keinen Schulplatz. Es gilt, schnellstmöglich Deutsch zu lernen, um sich im Alltag zu verständigen.
Herr Saleh und seine Frau sind zuversichtlich, auch die letzten Herausforderungen zu meistern. Sie fühlen sich sehr wohl in Lünen. "Es ist so ruhig, so schön grün hier. Die Menschen sind nett zu uns. Am Liebsten möchten wir bleiben", sagen sie.
Durch unsere guten Kontakte vor Ort, etwa mit Wohnungsgesellschaften, Arbeitsagenturen oder dem Kommunalen Integrationszentrum, konnten wir die großen akuten Herausforderungen meistern. Erfreulicherweise gelang es etwa, für alle Kinder einen Schulplatz zu bekommen.
Auch in Sachen Sprachkurse sieht es gut aus. Wir versuchen gerade, Herrn Saleh in einen berufsbezogenen Sprachkurs im Pflegebereich zu vermitteln. Seine Frau braucht zunächst einen Alphabetisierungskurs. Und eine Frauenärztin, die Arabisch spricht. Wir kümmern uns darum!
Ein Beitrag von
Anja Mölders und Nasser Ilayyan sind Berater*innen in unserer Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE). Die Beratungsstelle begleitet geflüchtete Menschen mit guter Bleibeperspektive, Migrant*innen und ihre Familienangehörigen auf ihrem Weg in die deutsche Gesellschaft und gibt ihnen Unterstützung zum selbständigen Handeln in allen Lebensbereichen und konkreten Problemlagen.