Auf der Zielgraden nochmal richtig aufgedreht

Integration durch Partizipation

Gut vorbereitet und selbstsicher erklärt Mizgin den Gästen an diesem Nachmittag, was sie an der Stellwand im großen Saal des Multikulturellen Forums betrachten können: „An diesen Orten können junge Lünerinnen und Lüner teilnehmen. Ob Nachhilfe, Sport oder Umweltschutz, die Bereiche sind ganz unterschiedlich“ erklärt die 18-jährige den Zuschauenden. Sie zeigt auf die verschiedenen Steckbriefe, die sie zusammen mit anderen Jugendlichen kurz vor der heutigen Abschlussveranstaltung vorbereitet hat. Jeder Steckbrief steht für eine Organisation in Lünen.

Jugendliche arbeiten zusammen an einem Tisch

Anschließend wird ein Rap-Song abgespielt. „Laufe durch die Stadt und merke jeder will ins Show Buiss. Der Inhalt baut jetzt auf, pass auf aber auch der Flow sitzt“. Es folgen viele weitere Zeilen, im Fokus steht der Umgang mit Krieg und globaler Ungerechtigkeit. Aber auch Passasagen mit Bezug auf ihren Lebensmittelpunkt Lünen tauchen immer wieder auf, ebenso wie das Projekt selbst:

„Vieles ausprobiert, viele Exkursionen. Das führte zu einigen Diskussionen“

Drei Jahre lang erkundete das Projekt "Lünen integriert durch Partizipation" mit Jugendlichen verschiedene Partizipations- und Teilhabemöglichkeiten in Lünen. Dahinter steckte die Erkenntnis, dass gerade junge Zugewanderte und Geflüchtete diese Angebote oft nicht kennen. Durch regelmäßige Treffen, Besuche von Institutionen oder Exkursionen zu Einrichtungen sollte Abhilfe geschaffen werden.

 „In Zeiten der Pandemie war dies kein leichtes Unterfangen“, räumt die Projektleiterin Sibel Turhan ein. Umso erfreuter zeigt sie sich an diesem Tag, dass sich drei ihrer Teilnehmenden dazu bereit erklärten, ihre Eindrücke und Erkenntnisse aus dem Projekt öffentlich zu teilen, und das Mitten in den Sommerferien.

Einer von ihnen ist Kassem, der vor sechs Jahren mit seiner Familie aus Syrien nach Deutschland gekommen ist, und ein Jahr lang die Internationale Förderklasse beim Lippe-Berufskolleg besuchte. Dort lernte er das Projekt „LüniPa“ kennen, und besuchte gleich zu Beginn seiner Teilnahme drei verschiedene Gotteshäuser, was ihn sehr beeindruckte. „Besonders über das Christentum und Judentum wusste ich sehr wenig. Es war ganz interessant zu erfahren, wie sie beten und was sie feiern. Dabei ist mir aufgefallen, wie viele Gemeinsamkeiten es mit dem Islam gibt“, erklärt Kassem.

Jugendliche spielen am Tischkicker

Besucht wurden nicht nur Gotteshäuser, sondern beispielsweise auch Jugendtreffs. Dunya erinnert sich noch sehr gut an den Tag, an dem sie die Stadtinsel kennenlernte. Obwohl sie nur einen Kilometer von ihrer Schule entfernt ist, hatten sie und die anderen Jugendlichen vorher noch nicht von dieser Einrichtung gehört.

Herzlich wurden sie vom Einrichtungsleiter Dirk Berger in Empfang genommen. Er erzählte von der Arbeit, den Räumlichkeiten und dem Freizeitprogramm der Stadtinsel. Sie kann täglich ab 15 Uhr besucht werden, und zu den Angeboten zählen beispielsweise Brett- und Kartenspiele, Aktionstage, eine Bühne für Theater und Tanz, Schach, Kicker, Billard, und noch vieles mehr.

„Die Stadtinsel ist ein Ort für Kinder, Jugendliche und Familien. Es ist ein Ort für Jedermann und alle sind herzlich willkommen“, resümiert Dunya bei der Abschlussveranstaltung.

„Leider gibt es hier keinen Club in der Stadt. Und so dreht auch diese Jugend hier am Rad“

 „Uns ging es im Projekt primär darum den Jugendlichen verschiedene Freizeitmöglichkeiten vorzustellen, die nichts kosten aber dennoch wertvoll sind.“, betont Sibel Turhan. Aber auch der Aspekt „Mitgestaltung“ war ihr durchgängig wichtig. „Denken wir zum Beispiel an politische Mitbestimmung: Unsere Jugendlichen haben keine deutsche Staatsbürgerschaft und sind deshalb von Wahlen ausgeschlossen. Dennoch können und sollen sie ihre Stimme erheben und sie können jederzeit einer politischen Partei beitreten. Das haben wir ihnen klargemacht.“

Jugendliche im Stuhlkreis, in der Mitte ein Referierender

Turhan verweist in diesem Zusammenhang auf die Besuche von Kommunalpolitiker*innen und die Treffen mit Jungparteien. Zudem organisierte sie im Vorfeld der Landtagswahlen 2021 einen Workshop mit der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dort schilderten die Jugendlichen ihre Erfahrungen mit Politik aus ihren Herkunftsländern. Meist waren es die regierenden Regime, die ihre Familien zwangen, ihre Heimat zu verlassen. Dass Politik etwas mit Teilhabe zu tun hat, ist in ihren Augen alles andere als trivial.

Was ist Politik? Wie funktionieren Wahlen in Deutschland? Was ist der Unterschied zwischen Landtagswahlen und Bundestagswahlen? Was bedeutet repräsentative Demokratie? Welche Parteien stehen zur Wahl und wofür setzen sie sich ein? All dies wurde an diesem Tag besprochen, bevor sie gemeinsam eine Wahl simulierten und die anschließenden Ergebnisse analysierten. Das kam bei den Jugendlichen besonders gut an. Sie wünschten sich, dass möglichst alle Gebrauch von Ihrem Wahlrecht machen. Zumindest würden sie es tun, wenn sie wählen dürften.

 

Jugendliche an einer Wahlurne

„Wohin führt der Weg akhi. Immer dieser Krieg akhi. In Lünen integriert durch Partizipation, sind motiviert und immer in Aktion“

Auch Mizgin ist es wichtig, dass sich junge Menschen engagieren. Dies sei ihr einmal mehr klargeworden, als sie im Rahmen des Projekts den Film „Nicht ohne Uns“ gesehen hat. In dem Film erzählten 15 Kinder aus 15 verschiedenen Ländern von ihrem Alltag, ihrem teils langen und beschwerlichen Schulweg sowie von ihren Wünschen und Forderungen an ihre Zukunft.

„Viele der gezeigten Kinder leben in Armut, haben keinen oder erschwerten Zugang zu Schulen und müssen nicht selten schon in jungen Jahren hart arbeiten. Sie können nichts dafür, in welchem Teil der Welt sie geboren werden“ Mizgin empfindet das als große Ungerechtigkeit, gegen die etwas unternommen werden müsse.

Voll besetzter Kinosaal

Besonders berührt hat sie der Moment am Ende, als einer der Protagonisten sagte, dass es immer Krieg geben wird, da es immer einen Dummen gibt, der diesen aufleben lässt. Hier stimmen alle Zuschauer*innen zu. Auch der Satz eines anderen Protagonisten, das Wasser für alle zugänglich sein sollte wird von den Jugendlichen aufgegriffen und bestätigt.

„Du trinkst viel Wasser, es gibt Menschen die verdursten. Siehst sie jeden Tag auch leiden, doch du tust nichts“

Sie äußern außerdem, dass sie sich wünschen, dass die Klimapolitik ernstgenommen wird. Sie greifen die genannten Punkte aus dem Film auf wie zum Beispiel die Wasserknappheit in einigen Ländern, die Armut und auch das Recht jeden Kindes auf Bildung und wünschen sich Taten von der Politik.

„So etwas kann eine Schule selbst ja gar nicht leisten“, betont Dörte Sancken vom Lippe-Berufskolleg. Die Lehrerin war von Anfang an vom Projekt überzeugt. Deshalb vermittelte sie gerne den Kontakt zu den Schüler*innen der Internationalen Förderklasse und stellte ihnen sogar einen Klassenraum zur Verfügung. In den Monaten der pandemiebedingten Kontaktreduktionen war dies die einzige Möglichkeit, sich als Gruppe weiter zu treffen.

Aus der Not wurde schließlich eine Tugend: Die Jugendlichen besuchten die wöchentlichen Projekttreffen, als gehörte es zum Schulunterricht. Sancken und Turhan würden sich deshalb sehr freuen, wenn die Kooperation zwischen Schule und dem Multikulturellen Forum auch nach Projektende weitergeführt werden könnte.

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