Ausgrenzung, Entrechtung, Widerstände

Sebastian Rose hält den Abschiebungsreport hoch

Wer wird abgeschoben, und warum?

Eine 77-jährige Frau aus Nordmazedonien besucht ihren Sohn in Deutschland. Plötzlich erleidet sie einen Herzinfarkt und wird pflegebedürftig. Ihr Sohn erklärt sich bereit, die Krankenhauskosten zu übernehmen und sie in seiner Wohnung zu pflegen. Trotzdem erhält die Frau einen Abschiebebescheid.

Fälle wie diese sind leider kein Einzelfall. Aktuell (Stand: 31.03.2024) sind rund 234.000 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Ihnen droht jederzeit die Abschiebung in ihr Herkunftsland. Ob diese jemals vollstreckt wird, und wenn ja, wann, hängt vom Zufall oder der Willkür einzelner Behörden ab. 16.430 Menschen wurden im vergangenen Jahr bundesweit abgeschoben, 2.863 von ihnen Kinder oder Jugendliche unter 18 Jahren. Am häufigsten trifft es derzeit Menschen aus Georgien oder dem Westbalkan.

In Relation zur Gesamtzahl an Fortzügen nichtdeutscher Staatsbürger*innen liegt die Quote dieser unfreiwilligen Ausreisen zwischen 1 und 2 Prozent. Quantitativ betrachtet haben Abschiebungen damit eher symbolische Bedeutung. Setzt man dieser das Leid der Betroffenen, den administrativen Aufwand oder die finanziellen Kosten entgegen, stellt sich durchaus die Frage nach der Sinnhaftigkeit, mindestens aber Verhältnismäßigkeit dieser Praxis.

Die Abschiebung eines jungen Mannes aus Mauretanien beispielsweise, der für ein Studium nach Deutschland gekommen war, hat den deutschen Fiskus rund 114.000 € gekostet. Der Mann war niemals strafrechtlich in Erscheinung getreten. Sein Aufenthaltsrecht erlosch, weil er eine Sprachprüfung auf C1-Niveau nicht bestanden hat.

Er war gerade dabei zum Christentum zu konvertieren, sodass ihm in der Islamischen Republik Mauretanien eine langjährige Gefängnisstrafe drohte. Trotzdem wurde er während eines Routinetermins bei der Ausländerbehörde verhaftet. In seiner Verzweiflung verschluckte er eine Büroklammer, wodurch er als suizidal eingestuft wurde, in Isolationshaft kam und fast zwei Monate lang mit einer 15-Minuten-Lebendkontrolle überwacht wurde. Inzwischen ist der Mann zurück in seinem Heimatland, wo er wie befürchtet inhaftiert wurde.

Rund 110 Fälle dokumentieren Sebastian Rose und Sascha Schießl in ihrem Buch "Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände.", das jüngst vom Abschiebungsreporting NRW und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. herausgegeben worden ist. Sie zeigen die Widersprüchlichkeiten und Härten der deutschen Abschiebepolitik auf und belegen die enorme Fehlerhaftigkeit, Zufälligkeit, Willkür und teilweise Rechtswidrigkeit der behördlichen Praxis.

Auf Einladung der regionalen Flüchtlingsberatung und der Asylverfahrensberatung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete an unserem Düsseldorfer Standort lasen sie am 13. Juni im Kulturhaus Zakk Auszüge aus ihrem Buch vor. Unter anderem legten sie dar, dass nicht nur abgelehnte Asylbewerber*innen abgeschoben werden. Vielmehr haben 40 Prozent der Ausreisepflichtigen überhaupt kein Asylverfahren durchlaufen haben, wie das Beispiel der Seniorin aus Nordmazedonien zeigt.

Sie entkräfteten zudem die Behauptung, dass es überwiegend „Gefährder“ bzw. „Straftäter“ seien, die abgeschoben würden (vgl. den oberen Fall aus Mauretanien). Treffen kann es jeden, jederzeit, ohne Vorankündigung. Selbst jene, die nie straffällig wurden, seit Jahren in Deutschland leben, deren Kinder hier geboren wurden und zur Schule gehen. Auch vor Menschen in Arbeit machen die Behörden keinen Halt, allen Debatten zum Fachkräftemangel in Deutschland zum Trotz.

 „Es sind sehr bedrückende Geschichten dabei“, erklären Sebastian Rose und Sascha Schießl, „aber auch positive Beispiele gelebter Solidarität“.

So konnte die Rückführung der 77-jährigen Frau aus Nordmazedonien verhindert werden, als ihr Fall publik wurde. Auch in anderen Fällen führten öffentliche Empörungen dazu, dass Behörden ihre Entscheidungen revidierten. Dies gilt umso mehr, wenn sich Politiker*innen für die Betroffenen einsetzen. „Proteste durch Kirchen, Arbeitgeber oder zivilgesellschaftliche Akteure haben nicht selten vermeintlich unausweichliche Schicksale zum Guten gewendet“, resümieren die Autoren des Buches.

Positive Beispiele seien das Instagram-Video eines lokalen Fußballvereins, eine Bürgerpetition, die Demonstration eines breiten Bündnisses oder der entscheidende Bericht einer Lokalpresse. Diese Beispiele zeigen, dass Abschiebungen in den seltensten Fällen unausweichlich sind, und dass es bis zuletzt Hoffnung gibt, diese abzuwenden.

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