Islam im Kontext Schule

Wie können Schulen Vielfalt lehren und leben? Wie kann Rassismus und Diskriminierung insbesondere mit Blick auf muslimische Schüler*innen wirkungsvoll bekämpft werden? Und welche Ansätze zur Förderung von gleichberechtigter Teilhabe haben sich bewährt? Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigten sich rund 60 Teilnehmende des Fachtags "Islam im Kontext Schule", der am 6. November im Rahmen des Projekts "Muslime im Dialog" online stattfand
Impulse für eine diversitätssensible Pädagogik
Vor ziemlich genau 10 Jahren sprach unser damaliger Bundespräsident Christian Wulf sein berühmtes Zitat „Der Islam gehört zu Deutschland“. Für die Einen war dieser Satz eine Tatsachenbeschreibung, Andere empfanden ihn als Provokation. Die Kritik reichte von relativierenden Aussagen, dass lediglich die rund 4,5 Mio. in Deutschland lebenden Muslim*innen selbstverständlicher Teil der Gesellschaft seien, nicht jedoch der Islam als Religion, bis hin zur generellen Unvereinbarkeit der Merkmale „muslimisch“ und „deutsch“.
Auch heute noch bewegt sich in Deutschland das Thema „Islam“ in einem vielfältigen Spannungsfeld. Mediale Aufmerksamkeit erhält das Thema fast ausschließlich in Verbindung mit islamistischem Terror oder den nicht enden wollenden Kopftuchdebatten. Der Islam wird als Feindbild oder wenigstens als „das Andere“ dargestellt, das mit „unseren“ Regeln und Gepflogenheiten unvereinbar scheint.
Was macht das mit einer Gesellschaft der Vielen, in der Menschen muslimischen Glaubens seit vielen Jahrzehnten zur Bevölkerung gehören, aber gleichzeitig Machtstrukturen und Diskurshoheiten ausgesetzt sind, die ihnen die gleichberechtigte Teilhabe verwehren? Und wie können wir dazu beitragen, dass Diskriminierung, Marginalisierung und Radikalisierung endlich der Vergangenheit angehören?
Schule als Ort der Vielfalt
Gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen münden nicht selten im Minimalkonsens „Bildung“ - als Schlüssel für sozialen Aufstieg und Garant für Chancengleichheit. In diesem Zusammenhang gilt Schule auch gerne als der zentrale Lernort für Vielfalt und Toleranz.

Tatsächlich ist in keiner Bildungseinrichtung die religiöse, ethnische oder kulturelle Pluralität höher als an den öffentlichen Schulen. Doch dieser Befund darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch hier immer wieder Stereotype, Vorurteile und Selektionsmechanismen reproduzieren. Dies wiederum bildet den Nährboden für vielerlei Konflikte und Ausgrenzungserfahrungen, sowohl im Klassen- als auch im Lehrerzimmer.
Antimuslimischer Rassismus
Die Erziehungswissenschaftlerinnen Prof. Dr. Nicolle Pfaff und Aylin Karabulut von der Universität Duisburg-Essen beschäftigen sich intensiv mit dem Phänomen des antimuslimischen Rassismus, dem zwei wesentliche Prozesse zugrunde liegen:
- Muslim*innen werden homogenisiert: Eine Vielfalt innerhalb des Islams wird ausgeblendet; stattdessen wird der Islam mit Islamismus gleichgesetzt und mit defizitären Zuschreibungen (rückständig, undemokratisch, gewalttätig, frauenverachtend) gleichgesetzt.
- Durch so genanntes Othering wird eine Abgrenzung zwischen dem homogenen/defizitären Islam und der eigenen, in diesem Zusammenhang christlichen oder westlichen Identität (angepasst, modern, gleichberechtigt) vorgenommen.
Darüber hinaus weisen Pfaff und Karabulut auf die Machtkomponente von Rassismus hin. Die eigene Gruppe wird nicht nur kognitiv und emotional aufgewertet, sondern sie profitiert auch von materiellen Privilegien, von denen andere Gruppen ausgeschlossen werden.
Dass Rassismus nicht mit Rechtsextremismus gleichgesetzt werden darf, sondern sich quer durch die gesellschaftlichen Milieus zieht, betont Prof. Dr. Karim Fereidooni von der Ruhr Universität Bochum. Der Sozialwissenschaftler beruft sich u.a. auf die Leipziger Autoritarismus-Studie der Heinrich-Böll-Stiftung sowie auf die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Um dessen universelle Anschlussfähigkeit zu erklären, zitiert er die Migrationsforscherin Prof. Dr. Karin Scherschel:
Rassismus stellt Individuen und Gesellschaften „ein Interpretationsangebot zum Verstehen sozialer Vorgänge […] bereit und bietet ihnen eine Option, soziale Welt mittels rassistisch konstruierter Kategorien zu strukturieren“
Einer Befragung des Sachverständigenrats Deutscher Stiftungen für Integration und Migration zufolge erfahren in Deutschland Menschen muslimischen Glaubens signifikant mehr Diskriminierung als andere Bevölkerungsgruppen. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass muslimisch gelesene Bewerber*innen bei gleicher Qualifikation um ein vielfaches mehr Absagen durch Arbeitgeber*innen erhalten als die Vergleichsgruppe. Je höher die Karrierestufe, umso stärker die Diskriminierung.
Rassismus und Diskriminierung in Schulen
Auch Schulen sind Orte der (Re-)Produktion antimuslimischer Bezugsrahmen, in denen unter Bedingungen von Differenz und Dominanz gehandelt wird. Typische Vorurteile im Schulkontext sind nach Karim Fereidooni etwa: „Junge Muslime sind aggressiv“, „Muslimische Mädchen müssen wegen ihrer Eltern Kopftuch tragen und werden später zwangsverheiratet“ oder „Muslime werden über ihre Religion zum Töten aufgefordert“.
„Wir sind hier nicht in Kanakistan“, sagte einmal ein Lehrer zu einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Schüler aus einer muslimisch geprägten Familie.
Für den Lehrer war es möglicherweise eine saloppe, nicht ganz ernst gemeinte Äußerung, schildert Fereidooni in seinem Beispielfall. Dem Schüler hingegen wurde damit suggeriert, in diesem Land lediglich zu Gast und nicht als gleichberechtigtes, selbstverständliches Mitglied willkommen zu sein. Dies führt laut Fereidooni irgendwann zur „Internalisierung“ durch die betroffenen Schüler*innen, was sich beispielsweise darin niederschlägt, dass sie sich selbst mit entsprechenden Zuschreibungen identifizieren und „erwartete“ Verhaltensweisen imitieren.

Auch durch Untätigkeit können Lehrkräfte antimuslimische Ressentiments befördern, wie das Beispiel von Podcasterin Delal Noori zeigt. Im Alter von 10 Jahren hat Noori von sich aus – ihre Eltern waren zunächst dagegen - entschieden, Hijab zu tragen. Als ihre Mitschüler*innen ihr diesen zum wiederholten Male vom Kopf rissen, schritten ihre Lehrer*innen weiterhin nicht ein. Sie verharmlosten die Aktion der Mitschüler*innen, und gaben ihr unterschwellig eine Mitschuld daran („Musst du das denn auch tragen…").
Als Noori im Schwimmunterricht mit einem Burkini erschien, wurde sie durch den Bademeister äußerst aggressiv angegangen. Ihr Schwimmlehrer griff nicht ein, verteidigte sie nicht, versuchte auch nicht zu vermitteln. Später wurde sie von einer Chemielehrerin gefragt, warum sie denn überhaupt Abitur machen wolle. Ihre Frage stand in einem deutlichen Zusammenhang mit ihrer Kollektivzuschreibung, die muslimische Frauen auf die Rolle einer Mutter und Hausfrau reduziert.
Inzwischen betreibt Noori gemeinsam mit Erva Yilmaz den erfolgreichen Podcast „Gedankensalat“. Ihre Kollegin kann sich ebenfalls an Schulsituationen erinnern, in der sie auf ihre Religionszugehörigkeit reduziert wurde. Insgesamt fällt ihre Bilanz aber positiv aus, offenbar hat sie mehr Unterstützung in der Schule erhalten. An einem konkreten Beispiel lässt sich das festmachen:
Yilmaz war es wichtig in der Schulpause zu beten. Sie suchte sich einen Ort im Kellerbereich aus, wo sie sich ungestört fühlte. Irgendwann entdeckte eine Lehrerin sie beim Beten. Sie bot ihr an, künftig einen leeren Aufenthaltsraum für sie zur Verfügung zu stellen. Eine pragmatische Reaktion, die ihr das Gefühl vermittelte dazuzugehören.
Rassismuskritik an Schulen
Antimuslimische Ressentiments an Schulen verschwinden nicht von allein. Es braucht eine Strategie, geeignete Maßnahmen und allen voran die Veränderungsbereitschaft auf Seiten der Verantwortlichen.
Pfaff/Karabulut schlagen folgende Tools zur Rassismuskritik vor:
- Es sollten Ansprechpersonen und/oder Beschwerdestellen für die verschiedenen Formen von Diskriminierung eingerichtet werden.
- Mechanismen, die zu Diskriminierung führen, müssen identifiziert und abgebaut werden.
- Eigene Positionen/Haltungen/Denkstrukturen müssen viel stärker reflektiert werden.
- Akteur*innen im Kontext Schule sollten mit adäquaten sozialen, interkulturellen und fachlichen Kompetenzen ausgestattet werden.
- Rassismuskritik muss in einen kontinuierlichen Organisations- und Lernprozess eingebettet werden.
Für die Bildungsarbeit gegen antimuslimischen Rassismus bedeutet das konkret:
- Es muss Wissen über die Vielfalt des Islams in Deutschland vermittelt werden.
- Der Fokus sollte auf interkulturelle/interreligiöse Gemeinsamkeiten gelegt werden.
- Ursachen und Ausprägungen von Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus müssen ausgezeigt werden.
- Othering-Prozesse (s.o.) müssen reflektiert und beseitigt werden.
- Muslimisches Leben in Deutschland sollte erlebbarer werden.
Alltagsrassismus erkennen und begegnen
Beispiele für einen diversitätssensiblen pädagogischen Umgang im Klassenzimmer erläutert Alioune Niang, Bildungsreferent beim Verein Ufuq e.V.: Beim Aufkommen von konfliktreichen Themen wie z.B. dem Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten ginge es nicht darum, diesen Konflikt selbst zu lösen. Vielmehr solle dieser als Anlass genommen werden im Unterricht über Gruppenzugehörigkeiten zu sprechen.
Es gelte, den Fokus auf die Jugendlichen zu legen und ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen Raum zu geben. Dies stelle eine Gesprächsbereitschaft her und kann fruchtbare Diskussionen und Denkprozesse einleiten. Zudem sei es wichtig, so Niang, positive identitätsstiftende Momente zu schaffen, indem z.B. das Deutsch-Sein mit den Schüler*innen neu definiert oder Mehrsprachigkeit als Ressource im Deutschunterricht behandelt werde.

Für pädagogische Fachkräfte in Schule und Jugendarbeit hat Ufuq e.V. das Kartenset „The Kids are Alright“ entworfen. Illustrierte Karten bieten in knapper Form Hintergrundinformationen und Vorschläge für den pädagogischen Umgang mit schwierigen Positionen und Verhaltensweisen von Jugendlichen im Kontext von Islam, Islamismus und Islamfeindlichkeit.
Ramadan im Klassenzimmer
Ein häufiger Konflikt in Schulen stellt der Umgang mit religiösen Feiertagen dar, insbesondere im Zusammenhang mit dem muslimischen Fastenmonat „Ramadan“. „Hier haben wir es häufig mit einer pauschalen Gegenüberstellung von um das Kindeswohl besorgten Lehrkräften auf der einen und vermeintlich rücksichtslosen muslimischen Eltern auf der anderen Seite zu tun“, konstatiert Naciye Kamcili-Yildiz vom Seminar für islamische Theologie an der Universität Paderborn.
Die Religionspädagogin plädiert für einen differenzierteren Blick. In der Regel üben muslimische Eltern keinerlei Druck auf ihre Kinder aus. Vielmehr eifern einige Kinder, beeindruckt von den verschiedenen Ritualen und der fröhlichen Atmosphäre beim gemeinsamen Fastenbrechen, ihren Eltern nach, ohne dass diese es verlangen oder in manchen Fällen überhaupt davon wissen. Besonders in der Grundschule sei das Fasten jedoch problematisch. In Fällen, in denen Schüler*innen durch Unkonzentriertheit oder Müdigkeit auffallen, müssen die Eltern informiert werden, so die Religionspädagogin.
„Hier macht der Ton oft die Musik“, erklärt Kamcili-Yildiz, „es macht einen Unterschied, ob ich als Schulleiter einen Elternbrief mit dem Tenor „bei uns gelten andere Regeln“ verfasse oder ob ich mich mit dem Anliegen an die Eltern wende, um eine gemeinsame Lösung zu finden“.
Bewährte Ansätze reichen von Kompromissen, Kindern einen halben Fastentag einzuräumen, über den Einsatz von Kinderbüchern zum Thema Ramadan im Unterricht und interkulturellen Kalendern im Lehrerzimmer (mit Blick auf die Terminierung von Klassenarbeiten und -fahrten), bis hin zu Patenschaftsmodellen, bei denen muslimische Schüler*innen andere Schüler*innen zum Fastenbrechen einladen.

Entscheidend für den Erfolg ist die Haltung der Schule: Lasse ich mich auf Innovationen ein oder reagiere ich ablehnend in Form von Verordnungen. „Wie gehe ich als Schule damit um“ wäre nach Kamcili-Yildiz in jedem Fall ein besserer Ansatz als eine „Wir-und-Ihr-Rhetorik“.
Auf die Eltern kommt es an
Saida Aderras von der Stiftung Weltethos empfiehlt den Schulen, Elternarbeit als Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zu sehen, die auf Augenhöhe stattfindet. Eine vertrauensvolle und regelmäßige Kommunikation mit migrierten und zugewanderten Eltern sei gerade deswegen so wichtig, weil diese das deutsche Schulsystem nicht kennen. Unsicherheiten und Missverständnisse könnten so schneller entstehen.
Die Lehrerin Saida Aderras stellt verschiedene Projekte und Initiativen gelungener Elternarbeit vor. In einer davon haben beispielsweise Eltern die Möglichkeit in der Schule zu hospitieren, um so den Schulalltag ihrer Kinder live mit zu erleben.
Noch normal oder doch schon radikal?
Ein weiteres Thema, mit dem sich Schulen proaktiv beschäftigen müssen, ist das Phänomen des gewaltbereiten Salafismus. Hier sind die landesgeförderten Wegweiser-Beratungsstellen ein wichtiger Kooperationspartner. Schulen erhalten von den Berater*innen fundierte Informationen über die Hintergründe und Erscheinungsformen von Radikalisierungen sowie über Handlungsmöglichkeiten für konkrete Situationen. Darüber hinaus bietet Wegweiser auch Workshops für Schüler*innen und Lehrkräfte an.
Die Berater der Wegweiser-Beratungsstelle in Dortmund, Hamm und im Kreis Unna betonen, dass der salafistische Absolutheitsanspruch („Nur wir sind die wahren Muslime“) auch andere Muslim*innen immer wieder zur Zielscheibe macht. Ebenso evident sei der Bezug zu antimuslimischem Rassismus, der als wichtiges Hinwendungsmotiv für muslimische Schüler*innen mit Diskriminierungserfahrungen gilt.

Viele Fragen rund um den Islam im schulischen Kontext entstünden, weil Lehrer*innen oftmals Berührungsängste mit dem Islam hätten. Dadurch komme es auch häufig zu „Fehlalarmen“, wenn etwa eine Schülerin mit einem Kopftuch aus den Sommerferien zurückkomme oder Schüler einen Gebetsraum an der Schule einforderten. Dahinter könnten sich auch schlicht eine religiöse Hinwendung oder Provokation verbergen, auf die es auf Augenhöhe, wertschätzend und sensibel einzugehen gelte, so die Berater.
Weiterbildungen für Fachpersonal
Ziel des Fachtags "Islam im Kontext Schule" war es, Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen Impulse für ihre Arbeit zu liefern, um sie im Umgang mit muslimischen Schüler*innen in einer diversitätssensiblen Pädagogik zu unterstützen. Die Organisatorinnen Larina Kleinitz und Elif Gömleksiz vom Projekt "Muslime im Dialog" ziehen wir ein sehr positives Fazit: "Sowohl die wissenschaftlichen und praxisorientierten Inputs als auch der anschließende Austausch im Rahmen der Workshops waren sehr aufschlussreich.
Unsere Fachbereichsleiterin für "Gesellschaft & Prävention", Sabrina Beckmann, kündigt für die kommenden Monate weitere Workshops und Seminare für pädagogische Fachkräfte an: "Mittels verschiedener praktischer Tipps und Methoden erarbeiten wir Handlungsempfehlungen für den Umgang mit kultureller Vielfalt und Vorurteilen im Schulalltag. Gemeinsam diskutieren wir über Handlungsempfehlungen und entwickeln mögliche Leitlinien zur Weiterarbeit für die Schule."