Migrantenorganisationen in NRW

MSO Stärken NRW...
...lautete das Motto des digitalen Fachtages, der am 30. Oktober 2020 im Namen von 11 Partnerprojekten des landesweiten MSO-Förderprogramms in Kooperation mit der Fachberatung Migrantenselbstorganisationen des Paritätischen NRW stattfand und von unserer Leiterin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Zeynep Kartal, moderiert wurde. Die Zweideutigkeit des Titels wurde bewusst gewählt, um sowohl auf den wichtigen Beitrag der Migrantenorganisationen für die soziale Arbeit Nordrhein-Westfalens als auch auf den Unterstützungsbedarf dieser Akteur*innen hinzuweisen.
Darüber, dass sich Migrantenorganisationen durch das Förderprogramm des Landes nicht nur gegenseitig stärken, sondern auch eine fundamentale Rolle bei der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts übernehmen, herrscht nicht nur zwischen den Projektträgern, sondern auch bei den mehr als 100 Mitwirkenden der Veranstaltung, darunter Vertreter*innen von Vereinen, Verbänden, Hochschulen, Integrationsräten, Kommunalen Integrationszentren und weiteren integrationspolitischen Akteur*innen, breiter Konsens.
"Der gesamtgesellschaftliche Mehrwert durch Migrantenorganisationen ist nicht nur ein integrationspolitischer Glaubenssatz, sondern eine realpolitische Feststellung"
Dies macht die Staatssekretärin für Integration des Landes NRW, Serap Güler, gleich zu Beginn ihrer Begrüßungsrede deutlich. Sowohl in ihrer Rolle als Sprachrohr für die Belange von Menschen mit Migrationshintergrund, als auch als gestaltende Instanz leisten Migrantenorganisationen einen wichtigen Beitrag in Nordrhein-Westfalen.
Grußworte von der Staatssekretärin für Integration des Landes Nordrhein-Westfalen Serap Güler zum Fachtag #MSOstärkenNRW
Untermauert wird dies am Beispiel des bürgerschaftlichen Engagements. Nirgendwo sonst steigt die Anzahl ehrenamtlich geleisteter Stunden so stark wie bei den Migrantenorganisationen. Die Einsatzfelder sind so facettenreich wie die Organisationen selbst und reichen von allgemeiner Orientierung für Neuzugewanderte über Sprachförderung und Bildung bis hin zu Sport- und Freizeitangeboten.

Mit der wachsenden Bedeutung steigen jedoch auch die Erwartungen an die entsprechenden Akteur*innen. Umso wichtiger sei es, die Professionalisierung dieser Organisationen weiter voranzutreiben. Staatssekretärin Serap Güler verweist in diesem Zusammenhang auf das Förderprogramm der Landesregierung, das aus drei verschiedenen Säulen besteht.
Neben Anschubförderung und Einzelprojektförderung ist die Partnerprojektförderung ein wichtiger Baustein. Hierbei stärken etablierte Migrantenorganisationen andere Vereine, Initiativen und Gruppen, beispielsweise bei der Vereinsgründung, Fördermittelakquise, der Organisationsentwicklung oder der Vernetzung vor Ort.
Der Verein Mala Ezidxan Dortmund und Umgebung e.V. fördert die Integration von Ezid*innen in Dortmund und setzt sich für eine lebendige Erinnerungskultur, insbesondere in Gedenken an den Genozid im Irak ein. Bei seiner Gründung und Weiterentwicklung bekam der Verein Unterstützung durch das Projekt "MSO - MigrantInnen Stark Organisiert".
Viele der im Rahmen der Partnerschaften unterstützten Organisationen haben nach Angaben der Staatssekretärin inzwischen Anträge auf Einzelprojektförderung gestellt; ein Indiz dafür, dass die Partnerprojekte sie erfolgreich auf dem Weg zur weiteren Professionalisierung begleitet haben. Serap Güler ergänzt:
"In einigen Jahren werden es vielleicht genau diese Organisationen sein, die wiederum andere Vereinen und Initiativen in ihrer Gründungs- und Entwicklungsphase unter die Arme greifen"
Ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Partnerprojekte ist die aktive Einbindung der Fachberatung Migrantenselbstorganisationen des Paritätischen NRW in das Programm. Zu ihrer Aufgabe zählen die Qualifizierung, Vernetzung und individuelle Begleitung der Organisationen, unabhängig davon ob sie dem Paritätischen als Dachverband angehören.

David Konrad ist Fachreferent für Migrantenorganisationen beim Paritätischen und hat den Fachtag gemeinsam mit elf Partnerprojekten organisiert. In seinem Vortrag verweist er auf die unterschiedlichen Schwerpunkte, die einzelne Träger in ihrer Zielbeschreibung formuliert haben:
"So haben sich einige Organisationen auf die verbesserte Teilhabe von Geflüchteten fokussiert, anderen wiederum waren Empowermentansätze für Jugendliche besonders wichtig. Auch Elemente wie Antidiskriminierung, Rassismusbekämpfung oder Sensibilisierung für demokratische Werte spielten in vielen Projekten eine große Rolle."
Bei der konkreten Umsetzung kristallisieren sich vier verschiedene Strategieansätze heraus:
- Öffentlichkeitsarbeit / Organisationsakquise
- Qualifizierung durch Seminare, Workshops, Einzelcoachings oder Fachveranstaltungen
- Vielfältige Unterstützung und Begleitung in der Gründungsphase
- gemeinsame Durchführung verschiedener Projekte
Die Ergebnisse aus der zweijährigen Programmphase können sich insgesamt sehen lassen:
- Mehr als 40 neue Migrantenorganisationen wurden bei ihrer Gründung unterstützt
- Fast 100 Projekte wurden neu angestoßen
- Knapp 1.000 Menschen haben sich ehrenamtlich engagiert
- Die Projekte waren in 35 Städten und Gemeinden in NRW aktiv
- Über 150 Veranstaltung mit fast 5.000 Teilnehmenden wurden durchgeführt
Diese Zahlen unterstreichen einmal mehr den unverzichtbaren Beitrag, den Migrantenorganisationen für die soziale Arbeit in NRW leisten. Die Partnerschaftsprojekte sorgen dabei nicht nur für die Stärkung der einzelnen Akteur*innen, sondern darüber hinaus auch für eine bessere Vernetzung untereinander.
Strukturelle Herausforderungen
Die äußerst erfreuliche Bilanz soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund ebenso wie die strukturelle Gleichberechtigung von Migrantenorganisationen nach wie vor mit Defiziten verbunden ist. Die emeritierte Professorin Ursula Boos-Nünning stellt in ihrem Vortrag klar:
"Gleichwohl soziale Hilfen und Unterstützungsangebote formell auch Migrant*innen gleichberechtigt zur Verfügung stehen, so ist ihre soziale wie politische Teilhabe deutlich unterrepräsentiert. In einer Gesellschaft der Vielfalt, in der jede*r Dritte inzwischen einen Migrationshintergrund hat, ist dieser Umstand nicht tragbar."
Die renommierte Soziologin und Bildungswissenschaftlerin führt dies auf die paternalistisch ausgerichtete Struktur der sozialen Interessenvertretung zurück. Jahrzehntelang haben die etablierten Wohlfahrtsverbände die Bildung, Beratung und nicht zuletzt auch die Lobbyarbeit für zugewanderte Menschen übernommen.
Auch wenn der Stellenwert von Migrantenorganisationen in diesem Gefüge in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist, haben sie im Vergleich zu den etablierten Verbänden noch immer mit strukturellen Benachteiligungen zu kämpfen. Fehlende finanzielle Rücklagen, mangelnde Einbindung in sozialpolitische Netzwerke und unzureichende Ressourcenbündelung auf höheren Ebenen bekräftigen diese Hypothese.
Boos-Nünning schlägt verschiedene kommunale Maßnahmen vor, die dem Abbau der geschilderten Defizite und der Erreichung von wirklicher Augenhöhe zwischen staatlichen Institutionen und migrantischer Zivilgesellschaft dienen. Hierzu zählen beispielsweise:
- Strukturförderung
- Coaching und Fortbildungen
- Etablierung eines Qualifizierungsnetzwerks
- Schaffung von Räumen und Gelegenheiten für einen Interessensausgleich mit der Mehrheitsgesellschaft
- Stärkung der Kompetenzen in einzelnen Fachgebieten
- Einbeziehung der MSO als gleichberechtigte Partner bei der Interkulturellen Öffnung
Der migrantischen Community empfiehlt Boos-Nünning, dass sie sich noch besser zusammenschließen und eine effektive Interessensvertretung aufbauen soll, um sich auf allen politischen Ebenen adäquat zu ihrer gesellschaftlichen Bedeutung Gehör und Mitsprache zu verschaffen.
Unterstützung durch die Landesregierung
In der anschließenden Podiumsdiskussion bestätigt die Leiterin des u.a. für Migrantenorganisationen zuständige Referats im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, Barbara Both, die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen von Prof. em. Dr. Ursula Boos-Nünning.
Die wachsende Bedeutung von Migrantenorganisationen habe sich bereits in der Phase des stark gestiegenen Zuwachses an Geflüchteten um 2015 und unlängst in der gegenwärtigen Pandemiebekämpfung gezeigt. Die Landesregierung werde auch weiterhin die Professionalisierung und Weiterentwicklung dieser Akteur*innen vorantreiben.
Das Projekt "MSO - MigrantInnen Stark Organisiert" berät und qualifiziert Initiativen, Gruppen und Vereine von und für Migrant*innen. Der Vorsitzende des FC Ezidxan Dortmund, Ali Khider Kasim, berichtet über die Vereinsgründung und die damit verbundenen Herausforderungen.
Gleichzeitig warnt Barbara Both vor überzogenen Erwartungen gegenüber Migrantenorganisationen. Es sei völlig legitim, wenn sich eine Organisation gegen eine zunehmende Kompetenzübernahme ausspräche. Vereine und Initiativen müssen nicht zwingend zu Fachexpert*innen auf sämtlichen Handlungsfeldern werden. Jede*r könne ihre/seine Nische im kommunalen Gefüge einnehmen.
Dialog auf Augenhöhe
Mitnehmen werde sie aber aus der heutigen Veranstaltung den Auftrag an die Landesregierung, auf dem Gebiet der politischen Interessenvertretung von Migrantenorganisationen neue Impulse zu setzen. Hierfür erntet sie Beifall von Lilia Lawruk, ehrenamtliche Geschäftsführerin Integration-Kulturzentrum e.V. im Kreis Mettmann:
"Das Förderprogramm hat vielen Beteiligten das Gefühl vermittelt, mitwirken zu können, beteiligt zu werden."
Die Übernahme von mehr gesellschaftlicher Verantwortung ist laut Lilia Lawruk eng verbunden mit der Möglichkeit eines Dialogs auf Augenhöhe. Dies setze jedoch zunächst voraus, dass die Akteur*innen überhaupt in der Lage versetzt werden, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen.
Strukturförderung
Beim Thema "Ressourcenausstattung" bringen einige Beteiligte die Forderung nach struktureller Förderung für Migrantenorganisationen ins Spiel, darunter auch Prof. em. Dr. Boos-Nünning. Barbara Both vom MKFFI weist in diesem Zusammenhang jedoch darauf hin, dass diese durchaus nachvollziehbare Forderung mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Landesmittel zulasten einer Breitenförderung gehen würde.

Zudem werde im aktuellen Landesförderprogramm bereits jetzt in geringem Umfang auch strukturell gefördert, ergänzt Rima Henkel. Sie leitet das Förderprogramm im Kompetenzzentrum für Integration bei der Bezirksregierung Arnsberg. Als Ansprechpartnerin für Fragen rund um das Antragverfahren oder der Verwendungsnachweise kennt sie die Herausforderungen, mit denen die Projektträger zu kämpfen haben:
"Die Corona-Pandemie stellt viele Migrantenorganisationen vor finanzielle Schwierigkeiten. Einnahmequellen brechen weg, Projektgelder können nicht geplant eingesetzt werden."
Zu diesen und anderen Themen bietet die Servicestelle beim Kompetenzzentrum für Integration Einzelberatung und Netzwerktreffen an. Letztere konnten jedoch coronabedingt in den vergangenen Monaten kaum durchgeführt werden. Inzwischen biete man aber einige Informationen auch online an.
Interkulturelle Öffnung
Ein weiteres wichtiges Thema beim Kompetenzzentrum für Integration ist die Interkulturelle Öffnung. Rima Henkel betont, dass es sich hierbei um einen kontinuierlichen Prozess der Organisationsentwicklung handelt, der sich im Übrigen nicht auf migrationsbezogene Behörden und Verbände beschränken dürfe, sondern ein Querschnittthema für alle Institutionen sei.
Für den Geschäftsführer des Multikulturellen Forums, Kenan Küçük, ist Interkulturelle Öffnung der Schlüssel für die gleichberechtigte Teilhabe von Migrantenorganisationen an gesellschaftlichen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen. Zum Einen teilt er die einhellige Meinung, dass migrantische Akteur*innen mehr gesellschaftliche Aufgaben übernehmen und hierfür mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden sollen.
Zum Anderen hält er jedoch wenig von der Vorstellung, dass dieser Professionalisierungsprozess losgelöst von etablierten Strukturen der freien Wohlfahrtspflege vonstatten gehen soll:
Migrantenorganisationen sollten auf dem Gebiet der sozialen Arbeit keine Parallelstrukturen aufbauen. Vielmehr sollten sich die freien Wohlfahrtsverbände interkulturell weiter öffnen und sie als gleichberechtigte Mitglieder einbinden.
Netzwerk auf Landesebene
Gleichwohl befürwortet Kenan Küçük den Aufbau einer eigenständigen Struktur der politischen Mitsprache. Weder auf Bundes- noch auf Landesebene seien auf diesem Gebiet klare Instanzen sichtbar, was zulasten einer effektiven Interessenvertretung ginge. An dieser Stelle könne NRW mit seinen gut vernetzten Akteur*innen künftig mit gutem Beispiel vorangehen, bekräftigt Küçük mit Blick auf die vielen integrationspolitischen Gestalter*innen, die an dieser Tagung mitwirken.