30 Jahre nach "Asylkompromiss": Geflüchteten droht weitere Entrechtung

Hände versuchen sich an Stacheldraht festzuhalten

Vor 30 Jahren setzten Neonazis das Haus der türkischstämmigen Familie Genç in Solingen in Brand. Fünf Familienangehörige starben, 14 weitere erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen.

Drei Tage zuvor verabschiedete der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und SPD eine Änderung des im Grundgesetz verankerten Grundrechts auf Asyl. Teil dieses „Asylkompromisses“ war die Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes als Sondersozialgesetz, welches die Leistungen für Geflüchtete seitdem enorm beschneidet und in weiten Teilen sogar das Existenzminimum in Deutschland unterschreitet.

Flüchtlingsgipfel in Deutschland

30 Jahre später sitzen die Ministerpräsident*innen der Bundesländer mit Bundeskanzler Olaf Scholz zum so genannten "Flüchtlingsgipfel" zusammen. Beklagt werden vor allem die massiven Belastungen der Kommunen in Folge gestiegener Zahlen an Schutzsuchenden. 

Das vor 30 Jahren beschlossene Asylbewerberleistungsgesetz steht nicht nur wegen seiner ausgrenzenden, diskriminierenden und existenzbedrohenden Eigenschaften in der Kritik. Auch der bürokratische Aufwand und die damit verbunden personellen Kapazitäten sind besonders für die kommunalen Behörden enorm.  

Jurist*innen und Nichtregierungsorganisationen fordern deshalb schon seit längerem die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und die Überführung der Leistungsberechtigten in das SGB II. Stattdessen setzt die Politik lieber auf Abwehr, Abschottung, Abschiebung und Ablehnung. Damit folgt sie - wieder einmal - einem gefährlichen Rechtsdruck in Politik und Gesellschaft, der nicht nur in Deutschland zu beklagen ist.

Reform des Europäischen Asylsystems

Am 8. und 9. Juni 2023 treffen sich die EU-Innenminister*innen im Rat der Europäischen Union (EU), um über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu entscheiden. Es sind Regelungen geplant, die schwerwiegende Folgen für geflüchtete Menschen haben könnten. Unter anderem wird diskutiert, verpflichtende Grenzverfahren einzuführen, das Konzept der „sicheren Drittstaaten“ auszuweiten und am Dublin-System festzuhalten.

In ihrem Koalitionsvertrag verspricht die Bundesregierung eigentlich einen "Paradigmenwechsel" in der Migrationspolitik, um Geflüchtete zu schützen“, und kündigt an, sich für „bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren“ auf europäischer Ebene einzusetzen.

Nun also weicht die Bundesregierung von ihren Plänen zu Gunsten rechter Interessen radikal ab und schließt sich einer politischen und gesellschaftlichen Bewegung in Europa an, die auf die weitgehende Abschaffung des Flüchtlingsschutzes hinarbeitet und die Allgemeingültigkeit von Menschenrechten, rechtsstaatlichen Grundsätzen und europäischen Werten infragestellt.

Die Vorhaben lauten  „Kontrolle und Schutz der Außengrenzen“, „Optimierung der Aufgriffsverfahren“, „Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen“, „Stärkung von Frontex“, „Ausweitung von Abschiebungshaft“, etc.  – das bedeutet im Klartext:  Abwehr schutzbedürftiger Personen, noch mehr Ertrinkende im Mittelmeer, mehr Abschiebungen ins Elend der EU-Außenstaaten, weitere Haftlager, Entrechtung und Verweigerung des Zugangs zum Schutz, mehr Abschottung etc.

Parallel zu den geplanten Beschlüssen beobachten schon heute Menschenrechtler*innen einen massiven Anstieg von gewaltsamen und menschenunwürdigen Handlungen gegenüber Schutzsuchenden, insbesondere an den Außengrenzen der Europäischen Union. Auch hier sind Parallelen zu den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen von vor 30 Jahren erkennbar.

Appell an die Bundesregierung

Ein Bündnis aus mehr als 50 Organisationen fordert die Bundesregierung zur Abkehr von ihren Plänen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf. Mit Blick auf das Treffen der EU-Innenminister*innen am 8. Juni 2023 appelliert das Bündnis an Innenministerin Nancy Faeser, ihrer humanitären Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst zu nehmen.

Wir schließen uns diesem Appell an: Es darf keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes geben!

Zudem teilen wir die Forderungen im Offenen Brief von mehr als 700 Rechtsanwält*innen und Jurist*innen vom 26. Mai 2023 an die Mitglieder der Bundesregierung, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages und die Ministerpräsident*innen der Bundesländer, der sich ebenfalls gegen die Politik der Entrechtung und Ausgrenzung von Geflüchteten richtet:

Statt ernsthaft Fluchtursachen zu bekämpfen, werden die Schutzsuchenden zum Problem erklärt. Statt an dieser Spirale mitzudrehen, muss dem rechten Diskurs eine Politik der Menschenrechte entgegensetzt werden. Anstatt das Asylrecht faktisch abzuschaffen, müssen der Zugang zum Recht und ein effektives Flüchtlingsrecht gewährleistet werden.

Um mehr Menschen über die Pläne der Bundesregierung und deren Folgen zu informieren, fanden in den letzten Tagen bereits Demonstrationen in einigen Städten statt. Die Organisation Pro Asyl, die zu den Mitunterzeichnenden des oben beschriebenen Appells gehören, ruft zudem dazu auf, E-Mails an die Parteivorstände von SPD, Grüne und FDP zu versenden, und stellt hierfür ein entsprechendes Tool zur Verfügung.

Zur E-Mail Aktion von Pro Asyl