Best Practice bei der Arbeit mit schwer erreichbaren Jugendlichen
Entkoppelte Jugendliche"
Dieser Begriff tauchte mehrfach im Laufe des Fachforums Jugend auf. In Fachkreisen werden so junge Menschen genannt, die immer wieder Phasen der Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu bewältigen haben. "Insbesondere der Eintritt in die Volljährigkeit stellt sich bei dieser Gruppe als neuralgischer Punkt heraus", erklärt Sarah Beierle vom Deutschen Jugendinstitut.
Bestätigendes Nicken auf Seiten der 25 Teilnehmenden aus Schulen, Berufskollegs, Arbeitsverwaltungen und sozialen Einrichtungen der Jugendarbeit, die an diesem Tag der Einladung von Sabrina Beckmann, Leiterin im Projekt Vielfalt Plus, gefolgt sind.
"Viele Jobcenter-Mitarbeitende haben in ihrem Arbeitsalltag mit schwer erreichbaren Jugendlichen im Rahmen ihrer Maßnahmen gemäß §16H im SGB II zu tun", erklärt Sabrina Beckmann, "das Fachforum soll den Beteiligten die Möglichkeit geben, von anderen Praktiker*innen zu lernen und interessante Erfahrungen in das eigene Handlungsfeld zu integrieren".
Zu diesem Zweck hat sie eine Expertin aus der empirischen Forschung ins Fachforum eingebunden: Sarah Beierle ist wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Jugendinstitut und forscht seit Jahren zu Straßenjugendlichen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse
Nach ihrer Schätzung gibt es in Deutschland rund 37.000 so genannte Straßenjugendliche. Hierzu gehören auch junge Volljährige, und nicht alle von ihnen leben permanent auf der Straße. Auch junge Menschen in "prekären Wohnverhältnissen" gehören zu dieser Kategorie. Das Fehlen eines (intakten) Elternhauses ist eine der Hauptursachen für deren Lage.
Rund die Hälfte der Teilnehmenden hat in ihrer Arbeit unmittelbar mit Straßenjugendlichen zu tun, die Übrigen zumindest teilweise im Rahmen von Schuldnerberatung, Berufsvorbereitung oder der Arbeit mit Schulverweiger*innen. Alle sind sich einig: Die jungen Menschen müssen möglichst frühzeitig aus dieser Situation herausgeholt werden, aber wie?
Intervention schwierig
Vor allem zwei Aspekte vermindern die Aussichten auf einen frühen Interventionserfolg:
Zum Einen haben viele dieser Jugendlichen bereits zahlreiche Jugendhilfemaßnahmen durchlaufen. Nicht alle Erfahrungen damit waren positiv. Vor allem die bürokratischen Hürden und Zwangsmaßnahmen desillusionieren die jungen Menschen. Häufig sind sie auch wenig auf die individuellen Bedarfe abgestimmt. Selbst hilfreiche Maßnahmen laufen mitunter ins Leere, z.B. weil mit dem Erreichen der Volljährigkeit der Anspruch darauf erlischt oder das Projekt zeitlich begrenzt ist.
Zum Anderen übt die Obdachlosigkeit zunächst eine gewisse Faszination auf die Jugendlichen aus.
"Die erste Zeit auf der Straße wird oft als Befreiung empfunden. Endlich können die Jugendlichen selbstbestimmt, ohne Zwang leben. Man trifft andere Menschen mit ähnlichen Schicksalen und erfährt Solidarität", erklärt Sarah Beierle, „Die Ernüchterung folgt aber, sobald die Realität des Alltags die Jugendlichen einholt.“
Unter diesen Bedingungen haben es Sozialarbeiter*innen und andere Helfer*innen nicht immer leicht, auf die gewünschte Akzeptanz zu treffen. Vertrauen muss zunächst erst einmal aufgebaut werden. Hierfür braucht man einen langen Atem.
"Wir gehen immer wieder hin, zeigen, dass wir vor Ort jederzeit ansprechbar sind, das spricht sich irgendwann herum", bemerkt eine Teilnehmerin.
Bewährte Ansätze
Welche Zugangswege gibt es, welche Ansätze haben sich bewährt, und welche Netzwerke sind hierfür hilfreich? Diese Fragen wurden im Rahmen eines World Cafés an verschiedenen Thementischen diskutiert. Die Teilnehmenden kamen u.a. zu folgenden Ergebnissen:
- Präventionsarbeit kann gar nicht früh genug beginnen. Sinnvoll ist es, bereits Schulen mit entsprechenden Angeboten auszustatten. Auch Hebammen können in den Familien frühzeitig informieren und aufklären.
- Angebote für schwer erreichbare Jugendliche sollten an der Schnittstelle zwischen (Not-)Versorgung und individuellen Hilfs- und Beratungsangeboten ansetzen. So sollten Notschlafstellen, Waschmöglichkeiten, Handyaufladestellen oder Kleider- und Essensausgaben für Erstgespräche genutzt werden.
- Beim Kontaktaufbau mit Jugendlichen sollte auch digital gedacht werden. Online-Angebote und spezielle Apps sollten die klassische Präsenz vor Ort zwar nicht ersetzen, aber durchaus sinnvoll ergänzen.
- Jugendsozialarbeit darf nicht nur aus Streetworker und Pädagog*innen bestehen. Eine Zusammenarbeit mit Handwerker*innen oder Künstler*innen hat in der Regel mehr Aussicht auf Erfolg. Diese Projekte sind praxisnäher und sinnstiftender, ihre Wirkung ist unmittelbar sichtbar und erlebbar - ein nicht zu unterschätzender Motivationsschub.
- Kurzfristige Projekte, wechselnde Ansprechpartner*innen sind kontraproduktiv für den Vertrauensaufbau mit schwer erreichbaren Jugendlichen. Dies ist zwar nicht immer vermeidbar, sollte jedoch in der öffentlichen (Förder-)Struktur stets mitgedacht werden.
- In der Arbeit mit Jugendlichen nehmen Jobcenter eine wichtige Rolle ein, insbesondere was die Erreichbarkeit der Zielgruppe angeht. Diese können die pädagogische Arbeit jedoch nicht allein leisten. Entscheidend ist deshalb eine effektive Kooperation und Vernetzung mit anderen Hilfsangeboten.
- Voraussetzung für eine erfolgreiche Vernetzung ist zunächst einmal Transparenz über die Trägerlandschaft und deren Angebote vor Ort, geklärte regionale und fachliche Zuständigkeiten sowie verlässliche Finanzierungsstrukturen. Konkurrenzen im Stadtteil, undurchsichtige Kostenträger oder exkludierende Anspruchsberechtigungen seitens Zielgruppe erschweren erfolgreiche Jugendsozialarbeit.
- Nicht zu vernachlässigen ist zudem die frühzeitige Einbindung von Unternehmen. Bereits im Prozess der Stabilisierung und der Tagesstrukturierung können Arbeitgeber einen konstruktiven Beitrag leisten. Es lohnt sich daher, Zeit für die Akquise von und die Vernetzung mit Betrieben aus der Region zu investieren.
- DEN erfolgsversprechenden Ansatz gibt es nicht, weil jeder Mensch anders ist und unterschiedliche Interessen und Bedarfe hat. Daher sind Angebote notwendig, die so vielfältig sind wie deren Zielgruppe.
- Erfolgreiche Arbeit mit schwer erreichbaren Jugendlichen erfordert gute Abstimmung, ausreichend Personalressourcen, zeitliche und mobile Flexibilität, vor allem aber Geduld.
Als Fazit verbuchten die Teilnehmer*innen insbesondere den fachlichen Austausch und Praxisaustausch als persönlichen Zugewinn aus der Veranstaltung, wünschten sich aber mehr Information über 16 H Projekte von unterschiedlichen Trägern.